Es ist Juni. Während (leider wieder) viele Unternehmen auf alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, einen Regenbogen draufpatschen und sich, ohne sich, ohne sich wirklich für queere Menschen einzusetzen, mit bunten Flaggen solidarisch zeigen wollen (die Betonung liegt hier auf „sich zeigen“, denn mehr als Selbstprofilierung steckt meist nicht dahinter), ist für queere Menschen gerade die Zeit der CSDs, die Zeit, in der besonders viel aufgeklärt wird, in der der queeren Geschichte gedacht wird, und in der wir unapologetisch feiern, dass und was wir sind.
Ich will heute einen kleinen Beitrag in puncto Aufklärung leisten, da ich in letzter Zeit immer mal wieder gehört habe: „Demisexualität? Hab ich ja noch nie gehört!“
Und … das kann ich total gut verstehen. Ich habe erst mit über 30 ein Wort für das, was ich bin, gefunden – und glaubt mir, ich hätte gern früher eins gehabt. Aber generell ist das Bewusstsein für das asexuelle Spektrum (auch Ace-Spektrum genannt) noch stark ausbaufähig. Also fangen wir doch damit an!
Das asexuelle Spektrum
Asexualität ist nicht ein monolithischer Zustand, sondern gehört zu einem ganzen Spektrum. Das asexuelle Spektrum ist ein bisschen das vernachlässigte Stiefkind des Regenbogens. Es wird ständig vergessen, unsichtbar gemacht und regelmäßig wird auch innerhalb der queeren Community debattiert, ob Ace-Leute überhaupt dazugehören / queer genug sind (Spoiler: Ja, tun sie, ja sind sie). Ach ja, und pathologisiert wird auch gerne, als sei Asexualität etwas Krankhaftes oder Defizitäres, das „geheilt“, „korrigiert“ oder geändert werden müsste, oder das einfach verschwindet, wenn man die richtige Partnerperson findet. Um den Zahn gleich zu ziehen: Asexualität ist keine Krankheit. Punkt. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen. Und auch kein Defizit.
Aber was ist Asexualität dann? Wie darf man sich das Ganze vorstellen?
Bei Asexualität denken viele Leute vor allem an Menschen ohne Libido, Menschen, die nie Sex haben, die Sex eklig finden, die zölibatär und/oder aufgrund von schlechten Erfahrungen keinen Sex haben (wollen).
Manches davon kann tatsächlich auf manche asexuelle Menschen zutreffen. Die liebe Sina hat das in ihrer Artikelreihe über Asexualität besser erklärt, als ich es je könnte – lest unbedingt ihre Texte!
Aber, und das ist ganz wichtig: Beim asexuellen Spektrum geht es um sexuelle Anziehung, die entweder nicht, oder nur selten, oder nur unter bestimmten Bedingungen, in jedem Fall aber in geringerem Ausmaß vorhanden ist. Das (Nicht)Vorhandensein von Libido hat damit erst mal gar nichts zu tun.
Genau deswegen spricht man auch von einem Spektrum:
- Es gibt asexuelle Menschen, die Sex eklig finden, absolut kein Verlangen danach haben, mit irgendwem sexuell aktiv zu sein. Hier spricht man von sex-repulsed oder sex-averse .
- Es gibt Menschen, denen Sex einfach egal ist. Sie finden es nicht explizit eklig oder auch nicht explizit toll, es spielt in ihrem Leben einfach keine Rolle. Hier spricht man von sex-neutral oder sex-indifferent
- Es gibt Menschen, die zwar keine sexuelle Anziehung empfinden, aber aus verschiedensten Gründen trotzdem Sex haben – aus Neugier, um ihren Partnerpersonen näher zu sein, wegen Kinderwunsch… es gibt genug Gründe, alle davon valide. Hier spricht man von sex-favourable oder sex-positive (wobei letzterer Begriff auch noch eine generelle politische Dimension hat).
- Es gibt Menschen, die Sex nicht grundsätzlich abgeneigt sind, aber nur extrem selten sexuelle Anziehung erfahren. Hier spricht man von greysexual / grausexuelle / grey asexual.
- Ein Untertyp davon ist Demisexualität: Manche Menschen empfinden sexuelle Anziehung nur unter ganz bestimmten Bedingungen, z.B. erst, wenn eine tiefe emotionale Bindung zu einer Person vorhanden ist, was Monate oder Jahre dauern kann. Das wären übrigens die „aber wenn du die richtige Person triffst“-Leute. Ich gehe gleich noch im Detail drauf ein.
- Und es gibt noch eine Menge weiterer Facetten und Schattierungen! Mehr Informationen findet ihr hier, und eine gute deutschsprachige Quelle ist Aces NRW.
Quintessenz ist: Selbst, wenn man von „asexuell“ spricht (statt vom Spektrum), ist damit nicht zwangsweise „Sex = bäh“ gemeint. Von „ist absolut gar nichts für mich“ bis „finde ich unter den richtigen Umständen total toll“ ist auf dem Ace-Spektrum alles möglich und absolut valide.
Menschen ihre Asexualität abzusprechen, wenn sie „trotzdem“ Sex haben, ist absolut daneben und Gatekeeping, das niemand braucht. Es gibt kein „trotzdem“. Asexuelle Menschen können genauso Beziehungen haben wie allosexuelle Menschen auch (das Gegenteil von „asexuell“ ist nicht „normal“, sondern „allosexuell“). Ein verwandtes Thema hierzu ist noch Aromantik, also wenn Menschen keine romantische Anziehung verspüren. In dem Thema bin ich nicht so tief drin, aber es ist noch wichtig zu wissen, dass Asexualität und Aromantik zusammen auftreten können, aber nicht müssen.
Demisexualität: Zwischen Asexualität und Allosexualität
Was ist jetzt also Demisexualität?
Demisexuell heißt übersetzt etwa „halbsexuell“, also quasi auf der Mitte des Spektrums zwischen a- und allosexuell.
Demisexuell sind Leute, die erst unter bestimmten Bedingungen sexuelle Anziehung entwickeln können – und zwar i.d.R. erst, wenn sie eine tiefe emotionale Bindung zu einer anderen Person haben. Die Betonung liegt hier auf können. Es geht nicht darum, zu warten oder sich „aufzusparen“ oder nicht beim ersten Date mit jemandem zu schlafen, sondern darum, dass das Interesse daran ohne eine tiefe Bindung schlichtweg nicht da ist. Diese Bindung kann romantisch sein, muss aber nicht (tiefe freundschaftliche oder anderweitige emotionale Bindungen sind auch ein Ding). Zur Erfahrung kann gehören, sich einfach zu niemand konkretem hingezogen zu fühlen, selbst wenn man gerne Sex hätte – aber was will man machen, wenn man einfach niemanden anziehend genug findet? Anziehung, die rein auf Optik basiert, Aussagen, wie „heiß“ jemand sei oder dass man Person X nicht von der Bettkante stoßen würde – das mutet alles sehr bizarr an. Man kennt die Person doch nicht, wie soll man sie dann heiß genug finden, um Körperkontakt aufnehmen zu wollen?
Was Demisexuelle sich öfter anhören dürfen:
- Also bist du normal, aber willst nur ein besonderes Wort, um dich wichtig zu machen
- Also bist du nur extrem wählerisch
- Also fühlst du dich wie was Besseres, weil du nicht direkt mit jemandem ins Bett gehst
Alles Quark. „Normal“ wäre ja schön, aber unter Demis ist es sehr verbreitet, sich kaputt, unzulänglich oder anderweitig Fehl am Platz zu fühlen, denn in einer hochsexualisierten Gesellschaft wie unserer haut man raus, wenn man nicht auf die allgegenwärtigen Reize anspringt, aus welchen Gründen auch immer. Und ja, auch der Vorwurf des Wählerischseins oder des Wichtigmachens sind absurd, denn das Nichtvorhandensein von etwas, das doch angeblich alle haben oder empfinden … das sucht sich keiner von alleine aus. So wie sich generell niemand seine sexuelle Orientierung selbst aussucht. Duh.
Wörter finden unter dem Regenbogen
Kleiner Exkurs in den Persönlichen Bereich. Ich bin 32 und habe ganze 2x im Leben Anziehung (sexuelle und romantische) empfunden. Beide Male für Frauen. Aus dem Grund werde ich standardmäßig als lesbisch gelesen; das Label hat sich für mich aber nie richtig angefühlt, weil ich bei „lesbisch“ eine grundlegendere Anziehung zu einem Geschlecht voraussetzen würde als ich sie empfinde. Mangels anderweitiger Erfahrungen habe ich schlichtweg keine Ahnung, ob ich mich auch zu Personen anderer Geschlechter hingezogen fühlen könnte. Hübsch oder ästhetisch kann ich so ziemlich alle möglichen Menschen finden, das hat aber nichts mit Anziehung zu tun – Anziehung wohnt zu 200% bei meiner Frau.
In Single- und vor allem zu Teenager-Zeiten allerdings habe ich mich einfach nie zu irgendwem hingezogen gefühlt. Als Teenager ging damit für mich vor allem Gefühl von Kaputtsein einher. Bin ich emotional beschädigt? Was stimmt mit mir nicht? Wie oben gesagt: Das geht vielen Demis so. Als ich mich mit 18 das erste Mal verliebte, war es mir ziemlich wurscht, dass es eine Frau war – die eigentlich erwartbare initiale gay panic hatte ich nicht, bei mir wurde alles überstrahlt von einer Erleichterung: Hallelujah, ich bin doch nicht kaputt!
Ich hatte damals sogar mal nach Asexualität gegooglet, aber da ich, wie so viele auch, Asexualität mit sex-repulsedness gleichsetzte, konnte ich das ja nu wirklich nicht sein. Von einem Spektrum war damals noch nicht die Rede, leider. Über den Begriff „demisexuell“ war ich damals gestolpert, aber das Wort war damals noch so jung, und ich so naiv, dass ich dachte: „Püh, muss man sich für jeden Pups ein eigenes Wort ausdenken?!“ (ja, ja, oh, sweet summerchild!).
Schreiben und Selbsterkenntnis
Ende 2020 wurde dann die Recherche für eine Geschichte mit einer asexuellen Figur zum Selbstfindungsereignis. Bei der Recherche über Asexualität und „die asexuelle Erfahrung“ (jaah, ich weiß, ich war naiv und unerfahren) stolperte ich erneut über „Demisexualität“ (huch! das „ausgedachte“ Wort gibt’s ja immer noch!) und stutzte erneut darüber, wie sehr ich mich darin wiederfand. Ich fragte im AVEN-Forum um Rat, hatte Angst, mir einen Schuh anzuziehen, der mir eigentlich nicht zustand. Denn in einer Beziehung fühle ich mich ziemlich nicht besonders ungewöhnlich. Aber es bleibt nun mal ein Fakt, dass ich Anziehung und Attraktivität nur sehr, sehr begrenzt empfinde, und als Single und als verwirrter, verlorener Teenager hat dieses Gefühl einen entscheidenden Unterschied gemacht.
Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich mit dem Begriff wohlgefühlt habe (und ehrlich gesagt fühlt es sich auch immer noch bisweilen seltsam an, überhaupt einen Begriff zu haben). Aber die Erkenntnis, das es ein Wort für das gibt, was ich bin, und dass gar nicht so wenige andere Menschen sehr, sehr ähnliche Erfahrungen gemacht haben – das war ein schönes, warmes Gefühl. Gleichzeitig hat es mich aber auch traurig gemacht, dass es dieses Wissen (und auch die Begrifflichkeiten) nicht gab, als ich mich so verloren und kaputt gefühlt hatte.
Das Ganze hat mir auch die Augen dafür geöffnet, wie gut und richtig es ist, dass neue Begriffe geschaffen werden, wenn die vorhandene (sehr normative!) Sprache nicht ausreicht, um unsere nicht-normativen Erfahrungen abzubilden. Das gilt nicht nur für Sexualität, sondern auch für Identität und die Mikrolabels, die es inzwischen gibt, um Geschlechtererfahrungen zu verbalisieren.
Sichtbarkeit für das Unsichtbare im Unsichtbaren
Ebenso augenöffnend war übrigens auch das Sensitivity Reading zu besagter Kurzgeschichte. Ich hatte nach SR gesucht, denn, haha, was wusste ich schon von Asexualität? Hatte ich ja nichts mit zu tun! (OH sweet summer child!).
Ich hatte zwar zu dem Zeitpunkt etwas Wissen über das Spektrum und entsprechend bewusst sowohl sex repulsed, sex neutrale und sex-favourable Sensitivity Reader und Testleser*innen angefragt. Die Figur selbst war, analog zu meiner eigenen Unsicherheit zu dem Thema, da noch nicht festgelegt. Aber meine sex positive Sensitivity Readerin war so gerührt davon, ihre Erfahrung in Teilen der Geschichte zu lesen, dass ich noch heute eine Gänsehaut davon bekomme. Die SR erzählte auch ein wenig von dem Frust, ihre Erfahrungen nirgendwo gespiegelt zu sehen, da Ace-Figuren eben meist sex-repulsed sind. Entsprechend wurde die Figur in der Kurzgeschichte dann explizit sex-favourable, denn …
Das Ace-Spektrum in den Medien
Medial ist schon Asexualität generell stark unterrepräsentiert, und das Ace-Spektrum praktisch nicht vorhanden. Meist wird Asexualität einfach ignoriert; wenn sie in Serien oder Büchern mal aufgegriffen wird, dann oft auf sehr problematische Weise, z.B. im Rahmen einer Pathologisierung (also als krankhaftes Element), oder als Merkmal einer nichtmenschlichen Spezies, oder die Figuren werden allgemein als „kalt“ dargestellt. Glückliche, gesunde Ace-Figuren, die vielleicht sogar erfüllte, glückliche Leben und (gasp!) Beziehungen haben? Fehlanzeige. Tatsächlich fällt mir als positives Beispiel ad hoc nur Spooner aus Legends of Tomorrow ein.
Der andere Punkt ist: Wenn es asexuelle Figuren gibt, dann sind sie sehr oft sex-repulsed. Andere Facetten sind extrem, extrem selten. Sexneutrale oder sexfavourable Ace-Figuren? Andere Spielarten des Spektrums? Demisexuelle Figuren? Nope. Ich habe mich in der Hinsicht z.B. tatsächlich noch nie selbst irgendwo repräsentiert gesehen (bzw. muss meine Wohlfühl-Repräsentation wohl selbst schreiben).
Es wird besser. Das Bewusstsein wächst – zum Glück; vor allem in der deutschsprachigen Kleinverlags- und Selfpublisherszene sowie in der progressiven Phantastik bemühen sich immer mehr Autor*innen um Repräsentation. Aber wir sind trotzdem noch nischig unterwegs.
Deshalb ist es mir wichtig, nicht nur Asexualität im Allgemeinen, sondern gerade auch für diese unsichtbaren Facetten einer eh schon unsichtbar gemachten Fraktion des Regenbogens Platz in in meinen Geschichten zu schaffen. Und ja, seit ich weiß, dass ich selbst zum Ace-Spektrum gehöre, ist es mir noch mal ein besonderes Anliegen. Seit ich weiß, wie unsichtbar und nicht-valide sich sexfavourable Aces fühlen, ist es mir ein besonderes Anliegen. Seit ich weiß, was für ein Gatekeeping in vielen Ace-Communities herrscht, ist es mir ein besonderes Anliegen.
Und auch die Aufklärung ist mir wichtig. Gerade, was Grey- und Demisexualität angeht, hört man oft ein verächtliches: „Pff, wenn das ace ist, wär ich ja auch ace!“ Und… ja? Gerade Grey- und Demisexualität sind wahrscheinlich viel, viel verbreiteter, als man denkt – es wissen bloß sehr viele Menschen gar nicht, dass die Wörter überhaupt existieren. Und wenn es den Leuten fein damit geht, ist das ja auch total okay. Aber sobald Leidensdruck im Spiel ist, der durch das Wissen, nicht alleine mit den eigenen Erfahrungen zu sein, genommen werden könnte, ist es nicht mehr okay. Deshalb ist es wichtig, über diese Dinge zu reden, aufzuklären, sie sichtbarer zu machen. Es ist 2022, niemand sollte sich mehr verloren, kaputt oder unzulänglich fühlen müssen, weil man anders ist.
Für alle, die es bis hierher geschafft haben: Danke fürs Lesen, ich hoffe, ihr konntet etwas mitnehmen!
Happy Pridemonth! 🌈
Ach ja: Falls ihr selbst schreibt, nicht ace seid und gern ein Sensitivity Reading zu einer Ace-Figur möchtet: Ich biete das inzwischen übrigens selbst an 😉